Ausnahmsweise hatte ich mir vorgenommen mich konventioneller Mittel zu bedienen, deshalb schlich ich mit einem gewöhnlichen, analogen Fotoapparat durch das Gelände.
Staunend umrundete ich das riesige Gebäude, machte ein paar Aufnahmen. Dann war ich plötzlich so sehr von den Eindrücken gefangen, daß ich kurzzeitig das Gedächtnis verlor...ich hatte für Augenblicke ganz deutlich das Holodeck gesehen! Es war voll von seltsamen Erscheinungen. An allen Ecken und Enden bildete es Blasen, die aus dem Boden stiegen. Ich hoffte es möge kein Blasentraum werden, doch dann hörte ich wie anderswo welche schreiend und wehklagend platzten. Ich nahm an es würde sich um Geburt und Tod handeln. Oder um die Entstehung und Zerstörung von Wunschträumen?

Dann tauchten Männer und Frauen an Webstühlen auf – ein Heidenlärm entstand! Reihenweise erkannte ich gepeinigte Seelen, die ihr karges Dasein an den lärmenden Maschinen fristeten, nur um sich in der Nacht lieben zu dürfen, damit sich wieder neue Seifenblasen, sprich Traumvorstellungen von „Arbeitskräften“ bilden konnten, bevor die alten traurig aus der Welt (vom Holodeck) gingen. Mit der Zeit veränderten sich die werktätigen Gestalten zusehends und mir wurde bewusst, daß ich nun in die Zukunft sah.
Sie wurden dunkler und dunkler! Hatte man genügsamere Typen eingesetzt, weil die anderen keinen Optimismus mehr für die Tristesse aufbringen wollten: Schillernde Seifenblasen, die als Sehnsüchte vor jeder Erfüllung zum Platzen verurteilt waren?! Ich riss mich zusammen, los von meinen Halluzinationen und kehrte in die wirkliche Scheinwelt des Lebens zurück.

Ich musste was tun! Aber ich wusste leider nicht mehr ob ich nun schon Aufnahmen gemacht hatte oder nicht. War der Film richtig eingefädelt worden, war es das nicht? Sicherheitshalber kurbelte ich die Spule ein wenig zurück und öffnete das Kamera-Gehäuse. Ich hatte den Eindruck noch nichts gemacht zu haben, fädelte den Film also erneut ein und legte los! Ich drückte ungefähr 37 mal ab und wechselte den Streifen. Inzwischen – so stellte ich später fest – hatten wahrscheinlich die Schöpfer des Holodecks, die Aliens, in meinen Lebenslauf eingegriffen und dafür gesorgt, daß ich unabsichtlich 4 Doppelbelichtungen kreiert hatte, die allesamt sensationell waren.

Dann verfiel ich erneut in Trance! Das heißt: Mein Troll übernahm die Regie, mein Mensch trat in den Hintergrund und beide zusammen betraten wir, also ich, den Vorhof der Hölle – das Innere der Fabrik. Wir inspizierten auf der Männertoilette ganze Reihen von Urinalen, eine Art Mensa für Hungerleider und die enormen Hallen, in denen einst die Webstühle gestanden hatten, an denen die damals noch üblichen, hellen Gestalten malochten. Meine Kamera klickte sich von Halle zu Halle. Alle waren vom Fegefeuer erfüllt – überall spürte man den ausbeuterischen Geist der Großunternehmer, die dafür verantwortlich waren, daß Wenige viel und Viele nur das Nötigste im Leben bekamen. Mir fiel meine schulische Ausbildung ein, bevor ich mit dem Trollstudium begann und ich fragte mich, laut vor mich hin nörgelnd: „Was ist das denn für ein Schmierentheater?!“

Wir wurden doch alle nur darauf vorbereitet Aufgaben zu erfüllen, die uns nichts einbrachten, einem sonderbaren Großen und Ganzen aber enorm von Nutzen waren – und an dieser Stelle trennte sich mein Troll fast fühlbar von seinem Wirtsmenschen...ich phantasierte. Ich erhob mich geistig in schwindelnde Höhen, sah die Elfen auf und niedersteigen, hörte was sie mir flüsterten und war schließlich heilfroh Trollologie und Trollosophie studiert zu haben.
Bevor ich jedoch das Bewusstsein verlor tauchte eine weiße Gestalt aus dem Geflimmer zukünftiger und vergangener Ereignisse auf. De Königin des Sumpfes erschien!

Bevor ich sie begrüßte fiel mir noch folgender Satz ein, der mir wahrscheinlich von den Elfen eingegeben wurde: „Unser Bildungssystem ist eigentlich nichts weiter als der dumme Versuch einer perversen Gesellschaft die Vorzüge einer insektoiden Zivilisation zu imitieren“. Dann hatte sie mich am Wickel.
„Trolli“, jubilierte sie, „Hast du vergessen, daß wir draußen verabredet waren?“ Tatsächlich, angesichts dieses beeindruckenden Monstrums von Brachialbau hatte ich alles, bis auf meinen Auftrag vergessen. Wir umarmten uns, wie wir das immer taten und ich war froh nicht mehr mutterseelenallein dort herumstromern zu müssen, wo andere Seelen an sich und dem sie umgebenden System zerbrochen waren.

Schmarri posierte noch überaus nett und auch gekonnt, zwischen Staub und Unrat, zerbrochenen Treppen und eingestürzten Mauern, sie stellte sich vor eingeschlagene Fensterscheiben – und sie lächelte ihr unverwechselbares Lächeln, welches nur eine Vettel aus dem Hause Vettele zustande bringen konnte. Dann: Küsschen, Küsschen und Rückkehr ins Atelier wo ich begann die ersten Skizzen anzufertigen...
10 Tage später, als ich die entwickelten Filme sichtete, bemerkte ich die Hilfe des Himmels: Die - wie ich nun zweifelsfrei erkannte - Doppelbelichtungen taugten ausgezeichnet dazu das Herzstück einer riesigen Collage zu bilden, um die herum ich im Traum nur noch Fortsetzungen zu zeichnen hatte, damit ein fulminantes Gesamtwerk erschien. Und sogar Schmarri war, winzig klein darauf zu sehen! Daß dieser Umstand mir noch zum Nachteil gereichen sollte bemerkte ich einige Zeit später.

Vorher jedoch wurde ich noch von vielerlei Eindrücken abgelenkt. Elidana, Nassune und weitere neue Modelle betörten meinen Menschengeist, wobei der Troll still hielt, damit ich irdisch-menschliche Erfahrungen machen konnte. Der Zauber wollte kein Ende nehmen.
Auch ein kleiner Wermutstropfen mischte sich in den Cocktail der Schönheiten: Masrorie rief mich an und berichtete mir von Hichtmelds Selbstmord, der vermutlich aus Liebeskummer geschah...

Sie hatte sich unsterblich in den Menschen meines Trolls verliebt, ohne den Troll in mir je zu Gesicht bekommen zu haben. Nachdem ich aber, weder mit noch ohne Troll, jemals für sie erreichbar gewesen war und keine Aussicht bestand mich von Dingsbums und ihren (Un)Möglichkeiten zu isolieren, hatte sie resigniert...und einfach Tabletten genommen!
Mein Gewissen verdüsterte sich parallel zu meiner Stimmung.
Ich erinnerte mich an ihre verzweifelten Annäherungsversuche, an ihre heimlichen Liebesschwüre, sobald Dingsbums einmal wegsah und ich schämte mich.
Danach machte ich allerdings meinem zweiten Ich, dem grausamen Troll fürchterliche Vorwürfe und bedauerte schrecklich Hichtmeld nicht rechtzeitig in psychiatrische Behandlung geschickt zu haben. Und wieder die eine Frage: Wer bin ich und was soll ich hier?

Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman)  24

© Alf Glocker


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Kommentare zu "Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman)  24"

Re: Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman)  24

Autor: Sonja Soller   Datum: 16.09.2022 9:47 Uhr

Kommentar: Wieder sehr aufschlussreich und spannend geschrieben, lieber Alf,
ob Mensch, ob Troll, ein aufregender Zeitroman.
Gerne gelesen!!!

Herzliche Morgengrüße aus dem gespannten, wie es wohl weitergeht Norden, Sonja

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